• 24-Stunden-Hotline zur Terminvergabe
  • 0800 - 724 33 11
Menü

Die Angst, Grenzen zu setzen


Alex, 27 Jahre:

Hallo,

ich heiße Alex und bin 27 Jahre alt. Mein Problem ist, dass ich zu empathisch bin. Vor einem Jahr kam mein Großvater, zu dem ich ein sehr enges und persönliches Verhältnis habe, ins Altersheim. Weil mein Bruder mental behindert ist, gaben mich meine Eltern oft am Wochenende zu meinen Großeltern, um Zeit für meinen Bruder zu haben. Nun versuche ich, meinen Opa so oft wie möglich zu besuchen. Ich beobachte aber an mir selbst, dass ich mir selber viel Druck mache, die Anforderungen, die ich an mich stelle zu erfüllen. Dann will ich ja noch für meine Freundin und für Freunde da sein. Von denen bekomme ich oft die Rückmeldung, dass ich zu sozial, zu gutmütig bin, keine Grenzen setzen kann. Alle mögen mich und möchten Zeit mit mir verbringen, weil ich so empathisch, so einfühlsam bin und bequatschen mit mir alle ihre Probleme.

Aber mir geht’s nicht gut damit, bin fertig und ich merke, dass ich früher lockerer war. Ich möchte gerne aus diesem Rad aussteigen – aber nicht als der Schwache dastehen auch nicht vor mir selber.

Das Problem ist, dass ich ein urschlechtes Gewissen bekomme, wenn ich meinen Großvater nicht so oft besuche, wie ich mir das in Gedanken vorstelle. Da würde ich gerne wieder lockerer und „mehr ich selbst“ sein auf eine positive Weise. Jeder fordert nur von mir und ich bräuchte eine positive Kraft, die hinter mir steht – aber wie soll ich die aufbauen? Wie kann ich ohne schlechtes Gewissen Anderen Grenzen setzen? Können Sie mir dabei helfen?

Liebe Grüße nach Frankreich!

Stellen Sie hier anonym Ihre Frage an Psychologen Online

Antwort von Psychologen Online

Lieber Alex,

gerne antworte ich Ihnen und werde Ihnen meinen Eindruck und meine Gedanken offen mitteilen und Sie müssen selbst sehen, was davon annehmbar ist und sich richtig anfühlt.

Sie schreiben, dass Sie eine positive Kraft in sich entdecken möchten, mit der sie für Andere da sein können, aber auch „Sie selbst“ bleiben und dabei locker und mit einem guten Gewissen.

Ich glaube, dass Sie diese positive Kraft bereits haben und dass Ihre große Empathie sehr wohl dazu gehört. Ich vermute, dass Ihr Wunsch, Anderen zu helfen, nett zu sein, echt ist, dass sie tatsächlich sensibel und einfühlsam sind und viel Liebe und Mitgefühl in sich haben. Das ist etwas Gutes – nur, dass sie sich dabei selber unter Druck setzen und vielleicht oft Erwartungen von Anderen spüren, die gar nicht da sind, macht es ihnen schwierig.

Nett sin müssen - wenn Helfen sich als Pflicht anfühlt

Z.B. schreiben Sie, dass Sie ein sehr schlechtes Gewissen haben, wenn sie ihren Opa nicht oft genug besuchen. Ich meine, es ist ja schon schön, dass Sie ihn überhaupt besuchen als junger Mensch, der auch ganz andere Interessen hat und ich bin mir sicher, dass Ihr Großvater darüber sehr froh ist. Ich weiß nicht, wie oft Sie ihn besuchen, vermutlich aber viel häufiger als nötig. Es kann sein, dass Sie sich da mit ihrem Opa ein Stück identifizieren und etwas fühlen, was eher mit ihrer eigenen Geschichte zu tun hat – als kleiner Junge, der sehr oft von seinen Eltern weggegeben wurde wegen dem Bruder. Es ist schön, dass der Opa sich um Sie gekümmert hat, aber vielleicht auch traurig für den Jungen, der so oft von zuhause weg musste, von daher kennen sie Einsamkeit und Traurigkeit.

"Empathisch sein und gleichzeitig auch Grenzen setzen können – das ist Stärke" 

Vermutlich ist ein Teil der Gefühle, die Sie mit dem Opa verbinden, eher ihr eigenes Gefühl. Sie haben ja sehr früh lernen müssen, zurückzustehen, weil der behinderte Bruder der Schwache war und Sie der Starke sein sollten. Selbst wenn das verständlich sein mag, waren Sie doch ein kleiner Junge, der selber auch Aufmerksamkeit, Zuwendung und einfach auch seine Eltern gebraucht hätte. So könnten sie auch Mitgefühl und Verständnis für sich selbst haben!

Angst, schwach zu wirken

Sie scheinen zu denken, dass Sie vielleicht als der Schwache dastehen könnten, wenn Sie nicht immer präsent für Andere sind oder auch mal Zeit für sich selber brauchen oder mal sagen: ich habe keine Zeit bzw. ich habe jetzt keine Zeit. Sie denken, dass das Schwäche ist. Aber kann Grenzen setzen nicht auch Stärke sein?
Da steckt die Stärke, die sie sich eigentlich wünschen.

"Ein Mensch, der wirklich sensibel, empathisch und hilfreich für Andere ist, ist einer, der gerne hilft, aber auch für sich selber sorgen kann." 

Das ist Stärke. Wie kann ich Anderen wirklich helfen, wenn ich mit meinen Kräften am Ende bin? Einfühlsam und empathisch sein, heißt eben nicht, sich ohne Grenzen zu verausgaben. Die Anderen werden das übrigens schätzen, wenn Sie auch für sich selbst eintreten und werden Sie desto stärker wahrnehmen.

Die positive Kraft haben sie bereits, was Sie lernen müssen, ist, sie zu regulieren, ihr einen Platz zu geben. Dass Sie diese Kraft haben, ist ja der Grund dafür, dass alle Ihre Nähe suchen und ihre Probleme gerne mit Ihnen besprechen.

Keine Grenzen setzen – eine mögliche Ursache

Sie sind ein guter Mensch, da bin ich mir sicher. Um das zu sein, müssen Sie sich überhaupt nicht anstrengen oder unter Druck setzen. Ich glaube, Sie sind wirklich liebevoll und mit viel Empathie und das Einzige, was Ihnen zu schaffen macht, sind falsche Vorstellungen darüber, was Sie alles tun müssen. Das meiste davon müssen sie gar nicht!

Ich vermute, dass dieser innere Druck aus ihrer Kindheit stammt und dass sie damals etwas Falsches gelernt haben, nämlich, dass Sie nicht richtig sind, wenn Sie nicht immer für alle da sind.

Vielleicht hilft Ihnen das schon, was ich Ihnen hier sage als meinen Eindruck. Darüber hinaus wäre es möglich, noch weiter auf die Ursachen zu schauen, die eher in der Vergangenheit liegen, also ein Stück Therapie.

Lassen Sie das Gesagte erst einmal wirken. Sie können mir aber gerne irgendwann sagen, inwieweit das für sie stimmig ist oder schon geholfen hat.

In jedem Fall wünsche ich ihnen einen guten Weg in der Entdeckung Ihrer inneren Kraft und alles Gute.

Lutz Förster

  • Lutz Förster ist Diplom-Psychologe und Psychologischer Psychotherapeut und lebt in Südfrankreich.

  • Die Antworten im Blog von Psychologen Online bieten eine erste Orientierungshilfe. Sie können keine Psychotherapie ersetzen und können auch keine Hilfe bei ernsten psychischen Problemen leisten. Die Online-Beratung erfolgt unentgeltlich durch einen Psychologen von Psychologen Online. Die Antwort bringt die persönliche Meinung des Autors oder der Autorin zum Ausdruck und spiegelt nicht unbedingt die Meinung von Psychologen Online wider.
    Die Beratung von Psychologen Online per Videotelefonie oder Telefon ist kostenpflichtig. Sollten Sie ein kostenfreies Beratungsangebot suchen, können Sie sich zum Beispiel an die Telefonseelsorge unter 0800/111 0 111 wenden.


Schreibe einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert.